06 Februar 2019

Neunzehnhundertsiebenundsiebzig

1977 - woran ich mich erinnere

Ich erinnere mich, wie ich 1977 als Jugendlicher aus der abgelegenen Kleinstadt nach Berlin kam. Meine Mitschüler trugen Bluejeans* und hörten Procol Harum und Deep Purple. Beide Bands waren zu diesem Zeitpunkt bereits eine Weile vorbei.

Ich™ trug rückständige Kleinstadtklamotten, hörte abwechselnd Klassik, Punk, Mike Oldfield sowie völlig unerträglichen Krach. Dazwischen auch Kraftwerk und kurze Zeit später La Düsseldorf.

Ich kam nicht nur aus der Provinz, ich sah auch aus wie ein Landei, in meinen gebügelten Hosen, die Themen meiner Mitschüler kreisten unterdessen um den Unterschied zwischen Levis und Wranglers.

"Die unterhalten sich hier über Markenklamotten" ging es mir durch den Kopf und ich wollte meine Ausreise beantragen. Aus West-Berlin, oder wenigstens aus dieser Schule.

Meine Mitschüler hielten mich für den Spießer. Ich sah ja auch so aus. Witzigerweise beruhte das auf Gegenseitigkeit. Irgendwann ging die Schulzeit dann zu Ende, gottseidank. Aufatmen, nicht weil sie schmerzhaft war, sondern langweilig. Eher schmerzhaft langweilig.

Von den meisten meiner Mitschüler habe ich nie wieder etwas gehört. Aber einer wurde Bezirksbürgermeister für die SPD, ein anderer berät heute ebenfalls die SPD und sogar den regierenden Bürgermeister. Der, der später stadtbekannter Radiomoderator wurde, war an dieser Schule genau so ein Außerirdischer wie ich.

Im Berliner Stadtzusammenhang hatte unser Gymnasium übrigens einen Ruf als sehr solides Ausbildungsinstitut. Über heute weiß ich nichts, aber wenn man früher seinen Namen nannte, erntete man immer Anerkennung und Hochachtung. Die Schule vergab so schlechte Noten, dass aus meinem Jahrgang von sechzig braven Schülern kein einziger Medizin studieren konnte.

Mehr als drei Jahrzehnte später erfuhr ich dann, dass La Düsseldorf zur deutschen Avantgarde gehört hatte und wegen Erfolglosigkeit den Betrieb irgendwann auslaufen ließ. An mir lag es ja nicht.




* und zwar in der aus ihrer Sicht einzigen zulässigen Farbe Blau. Ich habe seither nie wieder eine blaue Baumwollhose angezogen

03 Februar 2019

Berichte aus der Gegenwart

Das neue smarte Fon hat UKW-Radio, Der Große Bloguator™ schätzt so etwas. Es stammt von der Firma LG und ist insgesamt großartig.

Die mitgelieferten Ohrhörer jedoch sind ursächlich scheiße. Sie sind zu groß für menschliche Ohren und rutschen ständig heraus. Sie lassen sich auch nicht anpassen.  Muss man erst einmal schaffen: Etwas dermaßen unbrauchbares in die Welt zu setzen.

Für den Radioempfang benötigt man kabelgebundene Hörer, weil das Kabel als Antenne dient.

Das alte smarte Fon kam von der Firma Sony. Es besaß ebenfalls UKW-Radio und unscheinbare, aber sehr taugliche Ohrstöpsel. Herr und Frau Sony können das, immer schon. Oder sie wissen jedenfalls, dass einige Kunden ein Radio auch benutzen wollen, wenn es denn eins gibt.

Doch selbstverständlich funktionieren die Hörer vom SONY-Fon nicht am LG-Fon. SELBSTVERSTÄNDLICH NICHT! Auch wenn der genormte Stecker das irgendwie nahe zu legen scheint.

Der kluge Kaufmann weiß: "Der Kunde muss um Gottes Willen unser untaugliches Zeug kaufen! Oder gar nichts!" Dem klugen Kaufmann ist nämlich völlig gleichgültig, ob der Kunde zufrieden ist. Und über den Sinn von genormten Steckern denkt er nur nach, wenn er die Konkurrenz deswegen verklagen kann.

Das Nichtfunktionieren besteht übrigens darin, dass bei den nichtoriginalen Ohrhörern bestimmte Frequenzen herausgefiltert werden. Da werkelt wohl einfach eine Software, die für NoiseReduction oder GeräuschCancelling oder irgend solchen Quatsch sorgen soll. Man kann sie natürlich nicht konfigurieren.

Also zieht der Große Bloguator los, um geeignete Ohrstöpsel zu erwerben. 

Das Angebot ist ebenso riesig wie das der smarten Fone. Der Umstand, dass nicht alle gleich funktionieren, müsste den Leuten, die sich täglich damit beschäftigen, eigentlich bekannt sein, glaubt man so. Nur findet sich nichts davon auf der Produktbeschreibung. Einig sind sich alle nur über iPhone *und* Android. 

Deshalb wissen es auch die Fachverkäufer nicht. Wer herausfinden will, ob es funktioniert, muss solche Ohrstöpsel kaufen und ausprobieren. 

Es ist überraschend, aber in der Packung liegt keine Gebrauchsanweisung. In unserer Gegenwart werden Gebrauchsanweisungen für die trivialsten Gegenstände verfasst und beigelegt. Gerade für Ohrhörer, die man nur an die einzige vorhandene Buchse anstecken muss, wäre demnach eine umfangreiche Gebrauchsanweisung zu erwarten. 

Aber! Immerhin! Es gibt Sicherheitshinweise! Na klar, was denn sonst!

Sie befinden sich - TUSCH! - auf der Innenseite der verklebten Packung. Heißt: Wer sie wirklich lesen wollte, muss zuerst die Packung zerstören.

Doch doch, Aufreißen fällt unter Zerstören.

Nur muss das allen entgangen sein, die beim Design- und Marketing-Prozess mit dieser Verpackung zu tun hatten. Das wäre *Bildungsnotstand* und nicht ungewöhnlich in unserer Gegenwart: Die Entscheidungsträger - Abitur, Hochschulabschluss - sind nicht in der Lage, den Zweck einer einfachen Maßnahme zu erkennen.

Oder es wäre nicht allen entgangen. "Sicherheitshinweise auf der Innenseite vom Karton? Sind sie wahnsinnig?"
"Aber sonst liest es doch jeder!"
"Was? Und?"
"Und dann kaufen es die Leute vielleicht nicht. Oder sie laufen das Produkt von der Konkurrenz, wo nichts drauf steht."
"Aha. Na dann."


Das wäre wohl Täuschung, wenn die Zuständigen offensichtlich gar nicht wolllen, dass irgendjemand das liest. Aber in unserer Gegenwart stört sich kaum jemand noch daran.



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