04 Mai 2021

Seit der Antike!

Spiegel-Artikel: Ever Given-Eigner legen Bergungskosten auf ihre Frachtkunden um 

Oder jedenfalls möchten sie das gern. Kann man ja verstehen.


Ihr erinnert Euch noch an das lustige Schiff, das vor einigen Wochen die Durchfahrt durch den Suezkanal komplett blockierte, weil es quer lag? Die Ever Given, auf der in riesigen Lettern EVERGREEN stand? Ja, oder?

Die Webseite Vesselfinder hat den Vorgang umfassend dokumentiert.

Ausgangslage: Da lag ein riesiges Schiff quer, blockierte tagelange den Kanal, hinderte dessen Eigentümer am Geldverdienen und die wollen jetzt Schadenersatz.

Weil es um eine der wichtigsten Wasserstraßen der Welt geht, handelt es sich auch um eine hohe Summe: 900.000.000 Dollar. Als schönes Pfand haben die Eigentümer der Wasserstraße einfach das lustige Schiff beschlagnahmt. Es ist um die 400m lang und sollte zusammen mit der Ladung dieser Summe entsprechen.


Die Reederei namens EVERGREEN möchte wohl ihr Schiff zurück haben, aber die 900 Millionen reuen sie trotzdem, auch wenn sie sie hätte und bezahlen könnte. Daher setzt sie die Geschichte von der Havarie-grosse in die Welt¹. Dieses “Seit der Antike!”, seit Jahrtausenden, soll den Juristen ganz subtil sagen: Gewohnheitsrecht.

Das Verfahren läuft angeblich (also laut SPIEGEL-Artikel) seit der Antike so, dass bei einem Verlust eines Schiffes durch außergewöhnliche Situationen die Nutznießer entsprechend dem Wert ihrer Ladung am Schaden beteiligt werden. Angeblich.

Die Reederei versucht ziemlich unverschämt, die Spediteure an ihrem Versagen zu beteiligen. Die Spediteure streiten natürlich weniger gerne mit einer finanzstarken Reederei als mit einem kleinen Einzelhändler aus der Vorstadt.

Und vielleicht weiß der Einzelhändler ja gar nichts von dem Quatsch, den die Reederei da verzapft hat …und sein Anwalt vielleicht auch nicht? So kommt es dann ganz zuuuuuufällig zu vermeintlich unterhaltsamen Artikeln im Nachrichtenmagazin Der Spiegel, die Geschädigte Stück für Stück auf ihre Rolle als Zahlungspflichtige vorbereiten.

Die treue Leserin weiß es: Der Große Bloguator™ ist kein Jurist und schon gar nicht für Seerecht. Aber!

Jeder kennt die Versicherungsbedingungen, die Schäden durch Kernkraft, Krieg und Höhere Gewalt ausschließen. Also jeder “sollte” sie kennen, denn genau das steht in so ziemlich jedem Versicherungsvertrag.

Nur, dass der Schaden der Ever Given halt gar nicht durch ein unvorhersehbares Ereignis, durch Höhere Gewalt ausgelöst wurde - sondern durch Grobe Fahrlässigkeit - und das ist etwas ganz anderes.

Klingt komisch? Tja.

Einige Tage nach dem Lockdown im Suezkanal hieß es, der Kapitän habe ja vorher Penisbilder ins Rote Meer gemalt! Und sowas kommt ja wohl von sowas! Viele haben Abbildungen des geplotteten Fahrweges gesehen. Beweis!

Das Penisbild mag ein Beweis für den etwas kauzigen Humor des Kapitäns sein, aber es beweist vor allem eins: Das Schiff hat auf die Einfahrt in den Kanal gewartet. Die voraussichtliche Wartezeit war jedoch nicht lang genug, dass es gelohnt hätte, einen Parkplatz zu suchen und den Anker zu werfen.

Während der Fahrzeit, die es für das Penisbild brauchte, hat das Riesenschiff mutmaßlich etliche Tonnen teuren Treibstoff verbrannt. Sowas macht kein Kapitän, der es bis zur Führung eines solchen Riesen gebracht hat, nur aus Langeweile. Sondern beispielsweise, weil er auf die Einfahrt in den Kanal warten muss und nicht weiß, wann es losgeht.

Da waren nämlich noch andere, kleinere Schiffe, die auch passieren wollten. Und vor allem herrschte überaus starker Westwind². Man konnte ihn sogar auf den Wetter-Apps in Deutschland bequem verfolgen. Dieser starke Wind war dem Team der Ever Given mit Sicherheit bekannt.

Die Ever Given ist voll beladen etwa so groß wie 8 handelsübliche Hochhäuser und dadurch sehr empfindlich gegen Wind von der Seite. Der Suezkanal verläuft im Wesentlichen von Nord nach Süd, Westwind bedeutet: Wind genau von der Seite.

Gegen Seitenwind gibt es in der Seefahrt eine einfache Maßnahme, um  auf dem vorgesehenen Kurs zu bleiben: Vorhalten. Das heißt, man dreht die Nase des Schiffes dem Wind entgegen. Je mehr Wind, desto größer muss der Vorhaltewinkel sein, ist klar. Außerdem haben so große Schiffe lange Reaktionszeiten. Wenn also eine heftige Bö einfällt, dauert es eine Weile, bis das Schiff den entsprechenden Vorhaltewinkel eingenommen hat. Auf hoher See, mit viel Platz drum herum, ist das kein Problem. Nun hat ja jeder gesehen, dass im Suezkanal sehr wenig Platz ist, quer passt so ein Riese da gar nicht rein.

Je schneller das Schiff fährt, desto kleiner kann aber der Vorhaltewinkel sein. Hätte die Ever Given mit Vollgas durch den Kanal brettern können, wäre vermutlich gar nichts passiert.

Konnte sie aber nicht. Da waren nämlich noch andere Schiffe. Man sieht in den Logfiles sehr schön die Perlenkette von Fahrzeugen. Die meisten kleiner und daher deutlich langsamer als die Ever Given.

Nun hatte der Frachter auch Lotsen an Bord. Die wissen alles über ihre Region der Welt, kennen jede Untiefe und jedes Seezeichen, könnten auch so ein Riesenschiff selbst steuern - und lehnen jegliche Haftung ab. Schon weil der Kapitän immer noch besser weiß, wie es sich bei sehr starkem Seitenwind verhält.

Der Käptn wird all diese Risiken gekannt haben. Sonst wäre er nicht der Käptn geworden. Und weil das Risiko wirklich groß war, wird er seine Chefs angerufen haben und gefragt haben, was er denn tun soll? Mit Sicherheit hat er das.

Und die Chefs werden geantwortet haben “Herr Kapitän, SIE können die Lage doch viel besser einschätzen als wir. Tun sie, was ihnen richtig erscheint … ABER UNTER ALLEN UMSTÄNDEN MÜSSEN SIE DEN TERMIN EINHALTEN!!!” Und dann haben sie ihm vielleicht noch einen kleinen Vortrag über die Vertragsstrafen bei verspäteter Ankunft sowie Auslastung und Amortisierung so großer Schiffe gehalten. Und dann war dem Käptn vermutlich klar: Er soll  losfahren.

Nun gibt es in der Seefahrt eine ungeschriebene Regel, die wichtigste von allen: “Tu nichts, was schiefgehen kann!” Anders ausgedrückt: Wenn es schiefgehen kann, lässt man es sein. Oder trifft Vorkehrungen, damit es nicht schiefgehen kann. Immer.³ Man hätte einfach warten können, bis der Wind nachlässt. Es war von vornherein klar: Länger als 12 Stunden würde das auch nicht dauern. Aber so-ooo lange will in der modernen Welt niemand warten, auch nicht bei einer 6-wöchigen Seereise.

12 Stunden Verzögerung hätten womöglich mehrere Tausender gekostet, für das Umdisponieren in den Häfen der Welt oder als Vertragsstrafe bei einem der Empfänger der Ware. Der jetzige Schaden, die aktuell geforderte Summe, beträgt 900 Millionen.

Wir lassen das alles einen Moment sacken.

Und fassen zusammen: Dass es schiefgehen kann, war zweifellos bekannt. Vorkehrungen hat man nicht getroffen. Und das, liebe Leser, ist der Unterschied zwischen Höherer Gewalt und grober Fahrlässigkeit. Jeder Richter wird das verstehen.

 


¹ im Wikipedia-Eintrag dazu heißt es wörtlich “sofern nicht ohnehin der Schädiger diese Kosten zu erstatten hat.”
² die Webseite Meteomatics weist es sogar rechnerisch nach und kommt zu dem Schluss, dass die beiden Bugstrahlruder jedenfalls nicht ausgereicht hätten, um den Kurs zu halten
³ Ausnahme ist die Regattasegelei: Da wird das Risiko gesehen, kalkuliert und dann macht man es trotzdem

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