12 Oktober 2017

West, Ost und sonst

Geografie und Musik

Vor einiger Zeit habe ich Merril Garbus von den TuneYards in Berlin gesehen. Sie trat im West Germany auf. Am Ende der Show verabschiedete sie sich mit so etwas wie 'glad to be here in west germany' Anschließend mischte sie sich unters Publikum und bedankte sich bei jedem einzeln.

Ich hätte sie so gerne über die spezielle Geografie aufgeklärt: "Wir sind hier in einem Lokal namens WestGermany, welches im alten WestBerlin liegt, welches wiederum zwar zu WestDeutschland zählte aber mitten im alten EastGermany liegt." In Englisch natürlich, das macht die Sache reizvoller.

Der Veranstaltungsort ist¹ sehr charming, anscheinend eine aufgegebene Arztpraxis in einem 60er-Jahre-Betonbau, im Obergeschoss, nur über eine Treppe zu erreichen. Am Boden die alten weißen Fliesen der Arztpraxis, im Quadratraster ganz ohne übertriebenen gestalterischen Ehrgeiz verlegt. Darauf noch Teile der Metallleisten, aus denen die vorher vorhandenen Trockenbauwände errichtet wurden. Diese Metallleisten bestehen aus sehr dünnem Stahl und sind leicht zu verbiegen, also auch herunter zu treten, wenn man zu bequem ist, sie abzuschrauben. Danach sind sie immer noch einige Millimeter hoch und machen den Boden im Dunkeln unangenehm uneben, weil man denkt, dass man auf irgendwas drauf getreten ist oder der Boden substanzielle Risse aufweist.

Das WestGermany ist¹ auch mehr oder weniger nicht beschildert, der Hauseingang, zu dem die angegebene Hausnummer gehört, liegt an einer ganz anderen Stelle. Keiner in der Nähe, der sich auskennt. Und in Berlin fragt man in so einem Fall niemanden nach dem Weg, ist uncool, entweder entpuppen sich nämlich die anderen als Touristen, oder man selbst. Wer beim Warten den Blick ein wenig schweifen lässt, sieht aber, dass an einer Stelle noch mehr Konzertplakate kleben als sonst überall in Kreuzberg, dort geht es eine schwach beleuchtete Treppe hinauf und dort muss der Eingang sein.

Das ganze atmet tief den Geist der späten siebziger -  frühen achtziger Jahre im umzäunten aber freisinnigen und immer schon improvisierten West-Berlin.

Anderswo werden Zugänge bewusst so eingerichtet, anschließend nennt man es verschwörerisch Geheimtipp. In Berlin muss man keine Absicht unterstellen, es  trifft nur Unvermögen auf Pioniergeist und die meisten Leute lieben es, wenn sie es trotzdem gefunden haben. So ähnlich wird wohl auch der Name WestGermany des Lokals in WestBerlin im Zentrum des ehemaligen EastGermany enstanden sein. Ich habe Merrill Garbus übrigens von dieser tiefschürfenden Erkenntnis verschont - dafür war sie einfach zu nett.



¹ ist = war damals. Ist auch schon wieder zwei Jahre her. Oder so.

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