Eine gute Verwandte von mir, eigentlich meine nächste, muss operiert werden. In einem Krankenhaus. Man macht das in einem Krankenhaus.
Nun ist ein Krankenhaus heute in der Regel nicht mehr dasselbe wie im 16. Jahrhundert, wo das Krankenhaus ein Haus war, in dem sich Kranke aufhielten - mit denen aber auch nicht viel mehr passierte. Nur wenn sie Pech hatten konnte ihre Familie einen Barbier oder einen Abdecker bezahlen, der sich als Arzt bezeichnete und an ihnen herumpfuschte.
Heute zeichnet sich ein Krankenhaus nicht allein dadurch aus, dass man dort unter Umständen ausgebildete Ärzte antreffen kann. Sondern ein Krankenhaus ist heute eine Organisation. Verschiedene Ärzte arbeiten Hand in Hand und behandeln einen sogar, wenn sie grade nichts besseres zu tun haben. Für davor und danach gibt es Pflegepersonal, man bekommt Essen und alle möglichen anderen Segnungen.
In normalen Krankenhäusern ist das heute so, so weit ich mich erinnere. Bei dem Laden, in den meine nächste Verwandte gerade eingerückt ist, habe ich so meine Zweifel.
Als Aufnahmetermin stand seit Monaten der gerade vergangene Pfingstmontag fest. Am Dienstag sollte operiert werden und da haben es die Kliniken gerne, wenn sie den Patienten schon vorher ein wenig unter Aufsicht haben - Untersuchungen durchführen, Blut abnehmen, Abführen, Drogenverzicht, das alles ist hochinteressant und soll einer gewissen Kontrolle unterliegen.
Wie gesagt, der Aufnahmetermin stand seit Monaten fest. Das Foyer war fast leer. Deshalb warteten wir - an einem Feiertag - auf den fünfminütigen Akt der Eintragung ins System etwa eine Stunde. Irgend ein komplizierter anderer Fall musste wohl noch abgefertigt werden. Immer ordentlich der Reihe nach.
Dann, am Schalter, fiel mein Blick auf den Bildschirm mit dem Programm zur Klinikverwaltung: Solide DOS-Oberfläche, schätzungsweise mittlere achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Im Softwarebereich sind fünfundzwanzig Jahre mindestens fünf Generationen, freundlich geschätzt. Der Bildschirm war zwischendurch anscheinend einmal erneuert und durch einen anderen Röhrenmonitor ersetzt worden. Das Programm eben nicht. Aber wenn es seinen Zweck erfüllt, braucht man ja nicht zu klagen. Seit wann gibt es nur noch Flachbildschirme? Sind das schon wieder fünf Jahre? Sieben?
Auf der Station angekommen wurden wir gebeten, ein wenig zu warten. Das Bett sei noch nicht fertig. Inzwischen kam immerhin Essen, lecker, gute Krankenhauskost. Fettfrei, salzarm, sehr gesund.
Als das Bett fertig war lautete die Frage:
"Was macht denn das zweite Bett da?"
"Wieso?"
"Einzelzimmer?!?"
"Oh, Einzelzimmer!"Dass ein Einzelzimmer verlangt war hatte sich in der Gelassenheit des Feiertags noch nicht vom Erdgeschoss bis in den zweiten Stock herumgesprochen.
"Ja, äh, dann ... " Wir wurden gebeten, ein wenig zu warten.
Irgendwann war das Einzelzimmer fertig und ich verabschiedete mich. In der Annahme, dass jetzt nicht mehr viel schief gehen kann.
Die OP war für den nächsten Morgen angekündigt. Nach Mittag bekomme ich einen Anruf von meiner nächsten Verwandten: Dass noch nichts passiert sei. In Krankenhäusern wird meiner Erfahrung nach gerne morgens operiert. Den Nachmittag brauchen sie wohl zum Aufräumen, Kartenspielen, für Ärztechats, oder wofür auch immer. Dass bis mittags nichts passiert ist, klang ungewöhnlich.
Gegen Abend ein erneuter Anruf der nächsten Verwandten, diesmal von zu Hause.
"Was machst du denn zu Hause?"
"Die haben mich nicht operiert."
"Bist du vorher abgehauen?" Man weiß ja nie.
"Nein! Die haben mich nicht operiert!"
"Wieso?" Der Termin steht ja seit Wochen fest.
"Irgendein Notfall angeblich."
"Na und? Mit dem Notfall werden sie doch irgendwann fertig gewesen sein?"
"Aber dann hatten sie Feierabend." Feierabend.
"Und jetzt bist du nach Hause gegangen?"
"Was soll ich denn da? Wenn die mich sowieso nicht operieren!" Ich verstehe erst nicht richtig.
"Na, die werden dich dann sicher morgen operieren, oder?"
"Da haben sie keine Zeit."Keine Zeit.
Wie ich dann später herausfinde war sogar die Narkose schon eingeleitet worden. Meine nächste Verwandte wachte nach drei Stunden wieder auf und wunderte sich, dass nichts passiert war.
"Fein, tut ja gar nichts weh!"
"Wir haben ja auch noch gar nichts gemacht, ha ha!" Deutliche Einstichmale sind jedenfalls zu sehen. Daraufhin ist sie dann erst mal nach Hause gegangen.
Ob die Idee mit dem Krankenhaus so gut war, wird sich noch zeigen. Die Organisation, die wir angetroffen haben, unterscheidet sich nicht wesentlich von der oben beschriebenen aus dem sechzehnten Jahrhundert: Ein Haus, in dem sich Kranke aufhalten und von den Ärzten nach Kräften in Ruhe gelassen werden. Das ist ja auch mal eine Idee.
Falls sich jetzt irgendwer gefragt hat, um welche hochspezialisierte und weltweit gefragte Einrichtung es da gehen mag: Es handelt sich um das
Franziskus-Krankenhaus in Berlin-Tiergarten. Interessanter Weise finden sich in einem Internet-Portal namens "MedizinInfo" bzw.
"Klinik-Bewertungen" lauter positive Bewertungen des Krankenhauses. Unter diesen Umständen fragt man sich schon, wie die zustande gekommen sein mögen. Hoffen wir das beste.