30 November 2013

Große Kopulation

Es waren doch gerade wieder Koalitionsverhandlungen, wo eine bekannte Arbeiterpartei allerlei Forderungen vorgetragen hat, und da kommt mir eine alte Geschichte wieder in den Sinn, aus dem Tintenfisch 7 (Jahrbuch für Literatur 1974, Wagenbach Verlag), welchen ich überaus schätze. Schätzte. Nein, immer noch schätze.

Naja, dazu später mehr.

Hier ein unautorisierter Auszug aus einem wunderbaren Buch, welches nur noch antiquarisch erhältlich ist:


Detlef Michel
Geschichten aus einer Arbeiterpartei

Weil das Deutsche Reich Kolonien braucht. verlangt Bismarck im Reichstag Geld für die Einrichtung von Dampferlinien, welche das Reich mit Ostasien, Afrika und Australien verbinden sollen. Die sozialdemokratische Fraktion sitzt im Fraktionszimmer und sagt: "Es ist unser Grundsatz, gegen das Staatsbudget zu stimmen!«
Dann sagt die Fraktion: "Allerdings."
Sie steht auf, läuft mehrmals auf und ab. Dann, wieder anhaltend: "Allerdings ist unter bestimmten Umständen eine Ausnahme realpolitisch zu rechtfertigen."
Die Fraktion setzt sich wieder und verweist auf die kulturelle Bedeutung internationaler Verkehrsbedingungen.

Am 31. Juli 1914 sagt das Kriegsministerium zum Generalkommando: "Nach sicherer Mitteilung hat die sozialdemokratische Partei die feste Absicht, sich so zu verhalten, wie es sich für jeden Deutschen unter den gegenwärtigen Verhältnissen geziemt."
Am 1. August erklärt der Kaiser dem Zaren den Krieg.
Am 3. August erklärt die sozialdemokratische Partei ihre feste Absicht, sich so zu verhalten, wie es sich für jeden Deutschen unter den gegenwärtigen Verhältnissen geziemt. Sie versichert: "Wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich", und überhört Liebknechts Zwischenruf "Sondern was?"
 Als ein Viertel der Mitglieder im Krieg gefallen ist, sagt der sozialdemokratische Parteivorstand: "Durch einen Streik können gutgläubige Arbeiter in das Unglück gestürzt werden."
"Durch einen Streik kann die mühsam aufgebaute Organisation auf das schwerste gefährdet werden"
sagt der sozialdemokratische Parteivorstand, als ein Drittel der Mitglieder gefallen ist.

Im Reichstag steht der Friedrich Ebert. Mit ihm steht der Philipp Scheidemann. Vor dem Reichstag stehen Arbeiter, die auf einmal alle richtig wahlberechtigt sind. "Philipp, sag doch den Leuten was" sagt der Friedrich und schiebt den Philipp vors Fenster. Und weil die vielen Arbeiter den Philipp jetzt sehen, muß er etwas sagen. "Mitbürger!" sagt er, "Arbeiter! Genossen! Das monarchische System ist zusammengebrochen. Der Kaiser hat abgedankt. Es lebe die große deutsche Republik! Ebert bildet eine neue Regierung. Jetzt besteht unsre Aufgabe darin, den vollen Sieg des Volkes nicht beschmutzen zu lassen, und deshalb bitte ich Sie, sorgen Sie dafür, daß keine Störung der Sicherheit eintrete. Mitbürger! Ich bitte euch alle dringend: Verlaßt die Straßen! Sorgt für Ruhe und Ordnung!" Damit geht der Philipp wieder vom Fenster weg. Ein paar Minuten später kommt der Max von Baden in den Reichstag, und der Friedrich schlägt ihm vor, als Reichsverweser im Amt zu bleiben. Der Max sagt: "Aber einen Reichsverweser gibt es nur in der Monarchie. Und der Kaiser hat doch abgedankt" "Ach ja", sagt der Friedrich.

Der Oberbefehlshaber fährt mit seinem Adjutanten durch die eroberte Stadt. "Sehen Sie, was der Faschismus zurückgelassen hat?" fragt der Adjutant. "Lassen Sie halten", sagt der Oberbefehlshaber. Sie steigen aus. "Wir stehen vor dem Nichts" sagt der Adjutant. Der Oberbefehlshaber tippt mit zwei Fingern an den Schirm seiner Mütze. "Der Faschismus hat die Arbeiterbewegung zerschlagen", erklärt das Nichts, "und er hat die Industrialisierung vorangetrieben". "Aha", sagt der Oberbefehlshaber. "Das Kapital ist konzentriert wie noch nie" fährt das Nichts fort "und die Arbeiter sind desorganisiert wie noch nie. Ist das nichts?" Anerkennend sagt der Oberbefehlshaber zum Adjutanten: "Das ist ein Nichts wie noch nie."

"Sie haben wichtige Maßnahmen treffen können”, sagt der ausländische Gast zum Staatssekretär, "Sie haben die Bundesrepublik gegründet und in die NATO integriert. Sie haben die Bundeswehr aufgebaut, die KPD verboten und die Notstandsgesetze verabschiedet. Sie können glücklich sein, daß das Volk Ihrer Politik zustimmt." Der Staatssekretär gibt zu bedenken: "Wenn das Volk unserer Politik zustimmen würde, weshalb hätten wir diese wichtigen Maßnahmen treffen müssen?"

Zu kursierenden Gerüchten über das Ausmaß des wirtschaftlichen Wachstums nimmt der Regierungssprecher Stellung: Zugegebenermaßen seien die Verluste beträchtlich. Jährlich würden 17 000 Menschen durch Verkehrsunfälle sterben. Jährlich würden sich 2o.000 neue Fälle von Berufskrankheiten ereignen. Es gebe eine halbe Million Obdachlose, und Jahr für Jahr fänden zwei Millionen Arbeitsunfälle statt. Falsch aber sei die Behauptung, das Land sei von einer sozialen Marktwirtschaft besetzt und befinde sich im Kriegszustand. Richtig sei vielmehr, daß die Zahl der Kriegsversehrten rapide zurückgehe.

Einer Baustelle nähert sich ein systemüberwindender Reformer, nicht achtend auf den Staub, der sich in seine Kleidung setzt. Er tritt an die Walze heran und ruft dem Mann auf der Walze seinen Namen zu und daß jetzt die Wahl stattfände, und daß er kandidiere. Der Mann auf der Walze bittet, ihm nicht zu nahe zu treten wegen der Sicherheit. Der systemüberwindende Reformer öffnet seine Aktentasche, holt ein umfangreiches Paket hervor und ruft: "Wie finden Sie das?"
"Worum gehts denn?"
ruft der Mann von der Walze herab.
"Das Reformpaket. Sie wissen doch, die Wirtschaftskriminalität. Man kann mit der Wirtschaft mehr Schaden anrichten als mit einem Auto. Wechselreiterei, Briefkastenfirmen und so, verstehen Sie?"
Der Mann auf der Walze nickt und ruft: "]a ja, das ist schon so."
"Das liegt an den Gesetzen"
, ruft der systemüberwindende Reformer. "Verstehen Sie? Diese Geschäfte verstoßen ja gar nicht gegen die Gesetze. Die werden ja sogar mit den Gesetzen gemacht. Da müssen neue her." Das ruft er mit großem Eifer und schwenkt sein Paket hin und her.
Der Mann auf der Walze beugt sich herab und ruft: "]a ja, so ist das. Die Gesetze verstoßen gar nicht gegen die Geschäfte. Die werden mit den Geschäften gemacht. Das ist schon so. Da müssen neue Geschäfte her."

Genau, wie schon erwähnt: Aus dem Jahr 1974. Hat jemand den Eindruck, es könnte sich inzwischen etwas geändert haben?

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