18 April 2008

Religiöse Eiferer (1)

Wenn man eine Weile im Internet unterwegs war und gern auch die neuen elektronischen Möglichkeiten nutzt, trifft man sie irgendwann alle: Den Mail-Missionar, den DAU-Verhöhner und den Apostrophenwächter. Sie sind die Fanatiker der Gegenwart. Sie sind im Internet das, was die Taliban in Afghanistan und der militante Abtreibungsgegner in den USA ist: Religiöse Eiferer, die ohne jeden Bezug zur Realität auskommen, aber dafür von umso größerem Sendungsbewusstsein durchdrungen sind. An ihren Erkenntnissen soll die Welt genesen.

Allen drei Gruppen gemeinsam ist ein nicht lebensnotwendiges Inselwissen, wobei sie die Erkenntnis verweigern, dass sich die Realität über ihren engen Horizont hinaus erstreckt. Es handelt sich im Fall der genannten Gruppen um Kenntnisse über das Mailversenden-ohne-HTML, über Grundlagen der Computerbedienung und über Apostrophenverwendung.

Gleichzeitig halten sie ihre eigenen begrenzten Erkenntnisse für zwingend notwendig für den Fortbestand der Welt. In der Logik dieser Eiferer hat sich die Realität, Wissen, Wünschen und Handeln der gesamten Menschheit, auf ihr Inselwissen zu beschränken und darf keinesfalls darüber hinaus reichen. Dafür kämpfen sie den Kampf der Gerechten.

In früheren Zeiten wären solche Leute Zuträger bei der heiligen Inquisition gewesen. Sie hätten mit Wonne den unreinen Mailversender und den sündigen Apostrophenfrevler zum Empfang seiner gerechten Strafe auf dem Scheiterhaufen denunziert.

Der Großinquisitor hätte diese Toren im Stillen belächelt und ihrerseits auf den Scheiterhaufen geschickt, sobald sie ihm zu arg auf die Nerven gefallen wären. Diese wünschenswerte Lösung bietet sich aber derzeit nur in wenigen und unattraktiven Ländern mit unzuverlässiger Elektrizität.

Wegen der weitgehenden Abwesenheit von Inquisition und Stasi begnügen sich die Eiferer derzeit mit dem Erstellen schwindelerregender Webseiten zur Belehrung und erforderlichenfalls Beleidigung der ignoranten Mehrheit.


Betrachten wir die einzelnen Typen im Detail:

A. Der DAU-Verhöhner

Der D. hält sich selbst für einen Computer-Profi. Inhaltlich beschränkt sich seine Religion auf eine einzige rhetorische Frage: "Wie kann man nur so blöd sein?" wenn jemand einen Fehler macht, den der D. selbst nicht machen würde. Er ist der Maßstab, per definitionem unerreichbar, und daher muss der andere verhöhnt werden.

Seine einzige und durchaus anerkennenswerte Leistung besteht darin, dass er das Kürzel DAU für "Dümmster anzunehmender User" einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht hat. Dass man auch "Benutzer" statt "User" hätte sagen können, ist ihm entgangen. Ein so profanes Wort würde vielleicht seine Weltläufigkeit und sein gefühltes überragendes Fachwissen weniger strahlend zur Geltung bringen.

Der gewöhnliche DAU-Verhöhner hat eine Zeitlang bei einer Computer-Hotline gearbeitet oder ist sich sicher, dass er das bei seiner Qualifikation auf jeden Fall hätte tun können. Im letzteren Fall kennt er aus seinem Freundes- und Verwandtenkreis genug DAUs, denen er immer wieder Hilfestellung selbst bei einfachsten Problemen geben musste, um sie aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien.

Ein Klassiker der DAU-Verhöhnung ist der Dialog wegen der Stromversorgung: "Hallo, mein Computer geht nicht." "Ist denn das Gerät mit der Stromversorgung verbunden?" Gemeint ist: Netzstecker drin? "Oh, nein, war er nicht - jetzt geht er!" Damit könnte die Sache schon erledigt sein, jeder macht mal Fehler. Aber der DAU-Verhöhner fühlt sich jetzt verpflichtet, darüber eine himmelschreiende Klage zu verfassen und sie in allen ihm zugänglichen Internetkanälen zu veröffentlichen.

Beim DAU-Verhöhner speist sich der Glaube an die eigene Überlegenheit aus mangelnder Phantasie in Verbindung mit fehlendem Einfühlungsvermögen und lückenhafter Erinnerung. Sowie schwerer Selbstüberschätzung. Der typische D. kann sich nicht an die eigene Lernphase bezüglich des Computers erinnern - er findet es immer noch normal, dass er regelmäßig das Betriebssystem neu installieren musste, weil er zu viel daran herumgefummelt hatte. Im Zweifelsfall klagte er dann über das unzuverlässige Betriebssystem - genau dieses Verhalten nimmt er jetzt allerdings dem DAU übel.

Der DAU-Verhöhner kann sich die Distanz anderer Menschen zur Welt der Computerei nicht vorstellen. Technikferne ist ihm suspekt. Ihm selbst fällt nicht auf, dass er zwar perfekt Betriebssysteme neu aufsetzen kann (sofern es nur immer dasselbe Betriebssystem in einer nicht zu aktuellen Version ist), aber dafür kaum Auto fahren oder Fahrrad reparieren, Regale aufhängen oder ein Laserinterfermometer justieren. Das Essen brennt ihm nur deshalb nicht an, weil er nie kocht sondern lieber Pizza bestellt und gleich aus dem Karton isst.

Zurück zum zitierten Beispiel mit dem Netzstecker: Wegen seiner Wahrnehmungsschwäche ist dem DAU-Verhöhner noch nicht aufgefallen, dass heute hinter jedem Schreibtisch zwanzig Kabel verlaufen, die elektrische Geräte mit Strom versorgen, Lampen, Drucker, Telefone, externe Festplatten, Ladegeräte, Dockingstations, Radios, Uhren, mehr Lampen. Zudem sind abschaltbare Steckdosen inzwischen sehr populär. Heute ist ein abgezogener Netzstecker gar nicht mehr so einfach zu finden.

Wegen seiner mangelnden Phantasie kann der DAU-Verhöhner sich nicht vorstellen, dass jemand, der den Stecker nicht selbst herausgezogen hat, an dieser Stelle erst gar nicht sucht. Er kann sich auch nicht vorstellen, dass man zuweilen vergisst, dass man ihn herausgezogen hat. Er kann sich nicht einmal vorstellen, dass er seine eigenen Fehler vergessen haben könnte. Er kann sich gar nichts vorstellen. Das erleichtert ihm das Leben. Und den fanatischen Eifer.

Zudem gibt es Geräte, die eingeschaltet und mit Stromversorung genauso aussehen wie ausgeschaltet und ohne: Ein schwarzer Bildschirm. Es gibt auch Computerzustände, die dieses verursachen: Eine neues Modul, Grafikkarte, Speicherchip oder dergleichen. Der Anwender hat sowas schon gesehen - aber der DAU-Verhöhner kann sich das beim besten Willen nicht erklären. Er kann nicht glauben, dass jemand, der IHN fragt, andere Erfahrung hat als er selbst oder womöglich MEHR Erfahrung. Deshalb missversteht er schon die Fragestellung - nicht als besonders komplex, sondern als besonders trivial. Statt dessen ahnt er, dass jemand schuld sein muss und das kann ja nur der Anwender sein.

All dies ficht den DAU-Verhöhner nicht an: Für ihn existiert nichts, das er nicht selbst erfahren hat. Und woran er sich nicht erinnern will, ist nie passiert. Folgerichtig verwechselt er lebenslang Ursache und Wirkung: Weil er sich für einen Computerprofi hält ist er sicher, dass er ALLES kennt und weiß. Wenn er etwas nicht kennt, und der Fragesteller widerspricht, muss dieser demnach ein DAU sein.

In der Computerwelt ist die Umgangssprache Englisch. Genaugenommen: Amerikanisch. Das hat zur Folge, dass unzählige Programme, Hilfen und Gebrauchsanweisungen aus dem Amerikanischen übersetzt werden. Das Übersetzen geschieht vermutlich meistens von sprachunkundigen Computerfreaks - oder von computerunkundigen Fremdsprachenfreaks. So kommt es, dass für einfache Sachverhalte oft nicht-bildhafte, gänzlich abstrakte Begriffe verwendet werden (Menü, Ausschneiden) oder viele Dinge erst gar nicht übersetzt werden (Cursor, Icon, Software), hinzu kommen Myriaden kryptischer Abkürzungen. Zudem gibt es - zumindest im Deutschen - keine gemeinsame Terminologie: Gleiche Sachverhalte werden je nach Betriebssystem oder Programm unterschiedlich bezeichnet. Zuweilen bringt sogar schon eine neue Version des gleichen Hard- oder Softwareproduktes eine neue Terminologie mit sich.

Unter diesen Umständen führt die Wahrnehmungsschwäche des DAU-Verhöhners dazu, dass er schon das Namedropping einzelner Teile dauerhaft mit Fachwissen verwechselt.

Wie man im Verlauf dieses Berichts bereits erkennen konnte, ist der DAU-Verhöhner ein wenig einfältig: Wie ein Kind glaubt er, dass alles, was er noch nicht gesehen hat, oder woran er sich nicht erinnern kann, auch nicht existiert. Nur ist er altersmäßig kein Kind mehr und würde das auch bestreiten.

Die DAU-Verhöhnung ist wahrscheinlich eher eine Sonderform des Autismus, welche Information nur in gefilterter Form im Hirn des Erkrankten ankommen lässt. Die Erkrankung gilt zwar als potentiell heilbar, aber die Heilung würde langwierige Behandlung und aufopferungsvolle Pflege erfordern. Dass sich dieser Aufwand aus gesellschaftlicher Sicht überhaupt lohnt, darf getrost bezweifelt werden. Mitleid wäre ebenfalls fehlangebracht.

Der DAU-Verhöhner würde diesen Beitrag niemals zu Ende lesen - schon weil er seiner Meinung nach nicht richtig sein kann.





Und in der nächsten Folge: Der Mail-Missionar

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