20 September 2011

Ferne Welten - Geschichten aus der Zukunft


Heute: Hanf

Wir befinden uns in nicht allzu ferner Zukunft, auf einem Planeten, den die ersten Besucher von der Erde "Frankensteins Zoo" getauft haben. Das hat mit den Eigenheiten des Planeten zu tun, die nicht in allen Punkten den menschlichen Erwartungen entsprechen. Die ersten Besucher von der Erde sind eine dreiköpfige
Raumschiffbesatzung bestehend aus dem Kapitän, dem Arzt und einem
Ingenieur, der nicht spricht.
Ein riesiger Schleimpilz liest Gedanken und formt mit seinem flexiblen Fruchtkörper zuweilen die vorgefundenen Phantasiebilder eins zu eins nach, ein unheimlicher Pantomime.

Im Zuge der ersten relativistischen Reise wird den ersten relativistischen Reisenden immer unklarer, ob dieser Planet und sein Sonnensystem nun zwölf oder hundertzwölf Lichtjahre von der Erde entfernt ist. Oder irgendeine beliebige andere unüberwindliche Entfernung. Sie werden von Heimweh, Sehnsucht und einer gewissen schöpferischen Unruhe heimgesucht. Manchmal ist ihnen langweilig.




"Sagen sie, Käptn, ist das wirklich Hanf, was ich da draußen hinter dem Wäldchen gesehen habe?"

"Ja, Doc, wieso?"

"Warum sagen sie mir nichts davon? Haben sie den hier gefunden?"

"Wieso?"

"Das ist eine Revolution - wenn es hier genau denselben Hanf gibt wie auf der Erde. Dann muss es irgendeine Verbindung geben von hier zur Erde, zwölf Lichtjahre. Wo haben sie den gefunden?"

"Nirgends. Der ist nicht von hier."

"Nein?"

"Nein."

"Sondern? Warum pflanzen sie ihn dann an? Sind sie wahnsinnig?"

"Ich? Nicht mehr als jedes andere Besatzungsmitglied. Ich habe einen Test bestanden. Wie sie."

"Sie können doch den Planeten nicht mit Exoflora von der Erde kontaminieren!"

"Mit was?"

"Mit fremden Pflanzen! Schlimmm genug, dass wir hier sind, schon das ist ein Eingriff in das Ökosystem. Sie müssen völlig wahnsinnig sein! Und nur weil sie kiffen wollen! Der Wein reicht wohl noch nicht?"

"Kiffen? Wie kommen sie darauf? Ich will doch nicht kiffen!"

"Wofür sonst sollten sie Hanf brauchen? Haben sie zuviel freie Zeit? Wollen sie sich ein leinenes Leibchen häkeln, aus möglichst groben kratzigen Fasern?"

"Ich? Nein."

"Was dann? Was!?! Denn!?! Dann!?!"

"Ich mag den Geruch."

"Den Geruch? Das ist alles?"

"Das erinnert mich an meine Jugend. An die Schulzeit. Wenn wir am See am Lagerfeuer gesessen und gekifft haben, mit der Clique."

"Also doch! Und jetzt kiffen sie nicht mehr? Das soll ich glauben?"

"Die anderen haben gekifft. Ich nicht. Ich habe mir geschworen, dass ich nichts anfage, wofür ich rauchen muss. Da zählte das Kiffen dazu."

"Die anderen haben gekifft und sie nicht? Wie lange kann das gutgegangen sein? Zu der Clique haben sie nicht lange gehört, oder? Die haben so einen Langweiler sicher bald verstoßen, oder?"

"Keineswegs. Das waren Kiffer - so kleinlich waren die nicht."

"Und sie, als einziger nüchterner unter lauter Bedröhnten? Das ist doch immer furchtbar, über keinen Witz kann man mitlachen, weil das für nüchterne Menschen überhaupt nicht lustig ist."

"Na, sie kennen sich ja doch ganz gut aus, Doc."

"Vielleicht."

"War für mich jedenfalls nicht so schlimm, ich habe mich an die berauschenden Getränke gehalten und war zufrieden."

"Zufrieden."

"Ja. Immerhin habe ich so den Raumfahrer-Test bestanden: Nicht das geringste bisschen Droge in den Haaren, weil ich eben nie welche genommen hatte. Für einige sehr hoffnungsvolle Talente war das das Ausschlusskriterium, Drogentest positiv, noch Jahre nach dem letzten Konsum. Zack - und weg! Haaa haaa haaa, diese schmierigen Streber, die immer den Alpha-Rüden hinterher gehechelt sind, dem dröhnenden Chef ihrer Clique stets zu Diensten. Schleimscheißer!"

"Käptn?"

"Nichts für ungut, ich bin nicht schadenfroh. Fast nicht. Ich habe den Test jedenfalls bestanden."

"Und der Hanf da draußen?"

"Ich schätze den Geruch."

"Den Geruch?"

"Haben sie ein Problem mit den Ohren Doc? Damit sollten sie einmal zum Arzt gehen ... oh, hier sind sie ja der Arzt!"

"Käptn! Was ist mit dem Geruch?"

"Ich schätze den Duft. Das erinnert mich an frühere Zeiten, angenehme Erlebnisse, meine Jugend, dann kann ich mich entspannen, in den Horizont sehen und brauche gar keine Drogen."

"Außer dem Chardonnay."

"Der zählt nicht als Droge."

"Aber sie hätten die Hanfsamen zum Verbrennen doch im 3D-Erzeuger herstellen können! Völlig ohne Kontamination."

"Das ist nicht dasselbe. Wenn er natürlich wächst, dann kann man den Pflanzen dabei zusehen. Zuerst ist man gespannt, bis überhaupt etwas aus der Erde schaut, dann kann man sich jeden Tag darüber freuen, dass die Pflanze ein wenig größer geworden ist. Irgendwann wird bedächtig geerntet. Das ist ein großer Erfolg."

"Sie meinen, dass sie so eine Art Zen-Mediation daraus machen?"

"Mit Zen kenne ich mich nicht so aus. Meditation: Wahrscheinlich schon."

"Aber die Kontamination! Sie bringen fremde Pflanzen hierher! Wissen sie, was auf der Erde allein durch den Transport von Pflanzen und Tieren zwischen den verschiedenen Kontinenten passiert ist?"

"Kennen sie den Schmetterlingseffekt?"

"Bitte? Was soll der hier?"

"Es gibt dazu zwei Theorien."

"Seit wann?"

"Immer schon. Bekannt geworden ist irgendwie nur die eine: Dass etwa der Flügelschlag eines Schmetterlings in China eine winzige Luftbewegung auslösen kann, diese Luftbewegung eine Wolke, die Wolke einen Sturm und dass der Sturm Wochen später Wolkenbrüche in Europa verursacht. Der Schmetterlingseffekt in dieser Bedeutung besagt also, dass der winzige Flügelschlag des Schmetterlings in China eine gewaltige Wetterkatastrophe in Europa auslösen kann."

"Ja, kannte ich. Worauf wollen sie hinaus?"

"Die andere Theorie sagt das Gegenteil: Dass ein vergleichsweise kleines Ereignis wie der Lufhauch eines Schmetterlingsflügels durch die Größe der Umgebung einfach gedämpft wird, und zwar bis zur Bedeutungslosigkeit. Dass der Flügelschlag des Schmetterlings schon nach einem halben Meter gar nichts mehr verändert."

"So? Sagt sie das?"

"Welche These wirkt auf sie wahrscheinlicher?"

"So wie sie es darstellen, die zweite."

"Sehen sie?"

"Ich sehe gar nichts. Haben sie mal davon gehört, was passiert ist, als die Europäer Katzen und Hunde auf die Südseeinseln importiert haben?"

"Ja, naja, habe ich."

"Nach kurzer Zeit waren alle bodenbrütenden Vögel ausgerottet. Auf derartige Fressfeinde waren sie einfach nicht eingerichtet. Wo ist da ihr Schmetterlingseffekt, zweite These?"

"Na, immerhin, wenn die Katzen und Hunde nichts einfach Jagdbares mehr finden, wenn ihnen die Nahrungsgrundlage fehlt, dann verschwinden sie wieder..."

"Aber die ausgestorbenen Kiwis sind dann immer noch ausgestorben, oder?"

"Schon, ja, schon."

"Also?"

"Sie müssen sich keine Sorgen machen, Doc."

"Käptn! Und ob ich mir Sorgen mache! Und ob! Sehr wohl mache ich mir Sorgen!"

"Kein Grund dazu: Mein Hanf ist unfruchtbar."

"Unfruchtbar? Sind sie da sicher?"

"Bin ich. Ich habe einen gewählt, der steril bleibt. Und die hiesigen Insekten mögen ihn auch nicht."

"Das haben sie kontrolliert?"

"Klar: Ich habe eine Kamera aufgestellt und eine Beobachtungssoftware installiert. Selbst die famosen hirnlosen Tiere rühren ihn nicht an. Fast schon erstaunlich. Aber es funktioniert."

"Das war ein großes Risiko, Käptn!"

"Aber es funktioniert!"

"Ach, ja, das war der eigentliche Grund, weshalb ich sie darauf ansprach..."

"Warum? Alles in Ordnung! Was kann denn jetzt noch sein?"

"Ich habe vorhin gesehen, wie sich der telepathische Schleimpilz über ihre Plantage hermacht."

"Was?"

"Er fräst eine Schneise."

"Was? Mein Hanf!"

"Offenbar weidet er ihn ab."

"Aaaaah! Mein Hanf! Wissen sie, wie lange ich dafür gebraucht habe?"

"Keine Ahnung. Kann nicht sehr lange dauern, bis so eine Pflanze wächst. Ein paar Tage?"

"So viel Geduld habe ich nicht! Mein Hanf! Sie haben mir das eingebrockt!"

"Wieso ich?"

"Sie haben ihren telepathischen Schleimpilz auf meinen Hanf gehetzt! Sie!"

"Ich habe nur gedacht, dass es doch sehr interessant wäre zu wissen, was der geheimnisvolle Pilz mit einer Pflanze macht."

"Und der Pilz liest ihre Gedanken und stürzt sich auf meine Plantage!"

"Ich konnte doch nicht wissen, dass das ihr vollkommen unsinniger Exo-Hanf ist."

"Und jetzt?"

"Ich weiß es nicht. Aus dem Schleimpilz kommt bisher nichts wieder raus."

"Was bedeutet das?"

"Ich habe keine Ahnung, was er damit macht."

"Und jetzt?"

"So etwas haben sie nicht vorhergesehen, oder?"

"Dass sie ihren telepathischen Schleimpilz darauf hetzen? Nein!"

"Dass doch irgendeine Kreatur ihren Hanf verzehrt."

"Ich hatte alles bedacht! Ich habe Sicherheits­vorkehrungen!"

"Dafür nicht."

"Doch!"

"Offensichtlich nicht."

"Ich konnte doch nicht ahnen, dass..."

"Kennen sie das Problem mit der Kernkraft?"

"Was hat das hiermit zu tun? Lenken sie nicht ab! Kernkraft ist historisch!"

"Die Konzerne behaupteten damals immer, dass sie für jede denkbare Situation eine Sicherheits­vorkehrung hätten."

"Hatten sie aber nicht."

"Genau: Hatten sie nicht. Es traten nämlich regelmäßig Situationen ein, an die bis dahin niemand gedacht hatte. Überaus unwahr­scheinliches Material­versagen, Natur­katastrophen, oder schlicht menschliche Dummheit."

"Mein Hanf ist kein Kernkraftwerk!"

"Mag sein. Immer wenn eine sehr unwahrscheinliche, eigentlich gar nicht vorstellbare Katastrophe doch eingetreten war, traf man Vorkehrungen gegen genau solch ein Unglück. Welches sich dann aber nie wieder ereignete. Rausgeworfenes Geld also. Dafür kam ein anderes, ebenfalls sehr unvorstellbares Ereignis. Nichts zu tun wäre verant­wortungslos gewesen. Genauer gesagt: Es hätte die tatsächlich vorhandene Verantwortungs­losigkeit nur deutlich offenbart. Also tat man irgendetwas. Bis das nächste Unglück kam. Gegen das man im Nachhinein auch wieder eine Sicherheits­vorkehrung einrichtete. Dadurch verteuerte sich aber die Energie. Irgendwann gelangte man zu der naheliegenden Einsicht, dass es gegen unvorstellbare Ereignisse keinen planbaren Schutz geben kann. Die einen lebten dann ohne den Schutz und mit den Katastrophen, die anderen ohne Kernkraft und ohne atombedingte Katastrophen. Aber das ist heute ja zum Glück vorbei."

"Trotzdem ist mein Hanffeld keine Atomanlage!"

"Ich bin gespannt, was der Schleimpilz daraus macht. Sehr gespannt."

"Ich bringe ihn um, ihren Schleimpilz!"

"Da bin ich gespannt."

"Wieso?"

"Er kann ja auch ihre Gedanken lesen, nicht nur meine. Er hat sich noch nicht durch ihr ganzes Feld gefräst, wenn sie sich beeilen können sie vielleicht noch einiges retten."

"Ich bringe ihn um, ihren Schleimpilz!"

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