24 Dezember 2015

Straße rüber

Lernt man heute als Kind nicht mehr, wie man über die Straße geht?

In Berlin haben wir eine schöne Tradition: Wenn kein Auto kommt gehen wir über die Straße. Fußgängerampeln haben dabei eher so Hinweis-Charakter.

Die heutige Soziologen­generation könnte das vielleicht als "ergebnisorientiertes Handeln" brandmarken. Tut sie aber nicht, weil der heutigen Soziologen­generation so etwas nicht auffällt, obwohl es sich ganz eindeutig um ein Defizit handelt. Also, nicht bei den Berlinern, sondern bei den jugendlichen Zugereisten aus der Provinz.

Man erkennt sie daran, dass sie entweder auch mitten in der Nacht, werktags, an einer menschenleeren Straße ohne jeglichen Verkehr vor einer Fußgängerampel stehen bleiben, sofern sie Rot zeigt. Oder sie laufen blind über die Straße, auch mitten im Berufsverkehr und wenn die Stelle total unübersichtlich ist, wo also niemand bremsen könnte, selbst wenn er es wollte. Und die meisten deutschen Autofahrer wollen doch noch nicht einmal.

Anscheinend lernen in einigen Bundesländern Kinder heute nicht mehr, wie man über die Straße geht. Liegt vielleicht daran, dass im Deutschland der Gegenwart bis zum sechzehnten Lebensjahr die Mama immer zur Stelle ist und den Jugendlichen an der Hand nimmt, wenn er über die Straße muss. Oder sie bringt ihn gleich da hin, wo ihn sein heutiger Termin hin führt - im SUV aus der eigenen Eigenheimgarage bis vor die Tür des zu besuchenden fremden befreundeten Eigenheims.

Später verschlägt es den Jugendlichen dann nach Berlin, wohl weil es in der Biografie jedes Provinz­abiturienten unheimlich gut aussieht, wenn man zwischen neunzehn und einundzwanzig eine Weile "in Berlin gelebt hat". Was danach auf dem Lebensweg zu geschehen hat, hat die Mama dem Kind bereits Jahre vorher fest einprogrammiert. Aber dazwischen zwei Jahre Berlin. Und hier wollen sie über die Straße.

Die einen ziehen dann die Nonkonformistenuniform an und etliche von ihnen meinen, dass diese sie auch vor heran rasenden Autos schützt.

(die Fortgeschrittenenvariante dazu ist übrigens der Kreuzberger Suizidradler:
Das ist derselbe Typ Jugendlicher, der nur leider vergessen hat, nach einer Zeit des "Auslebens" den von Mama geplanten Lebensweg wieder einzuschlagen. Ein elender Rechthaber, der unerschütterlich an die eigene Unverwundbarkeit glaubt und in jedem anderen Verkehrsteilnehmer nur biologischen Abfall erkennt, egal ob es sich dabei um Fußgänger, Fahrrad- oder Autofahrer, Rentner, Behinderte oder Kleinfamilien handelt¹)

Die anderen der neu zugereisten kleiden sich immer noch wie Mamas Liebling, blankgeputzte Schuhe, Trenchcoat, Burberry-Schal, schwarze Hornbrille, Jutebeutel, und bleiben brav an jeder roten Ampel stehen.

Immerhin pöbeln die alle nicht herum, wenn der Stadt-Berliner sich benimmt als wäre er zu Hause: "ROT!" Das wiederum rufen nämlich häufig die Berliner aus den Randbezirken und wenige innerstädtische Rentner, die ihre Erziehung noch zu Vorkriegszeiten genossen haben. Diese Leute wissen zwar genau, wie das mit der Straße funktioniert, kommen aber nicht darüber hinweg, dass manche ihr Leben anders anwenden: "Was Recht ist muss Recht bleiben!" oder "Rot gilt für alle!"

Vereinzelt bleiben hier aber auch junge Erwachsene in Nonkonformistenuniform an roten Ampeln ohne Autoverkehr stehen. Die sind ein großes Rätsel. Sie wissen anscheinend noch nicht so genau, wo ihr Lebensweg sie hin führen soll.

Hm. Trotzdem: Lernt man heute als Kind nicht mehr, wie man über die Straße geht?





¹ trifft man gelegentlich auch in der Darreichungsform des "Messenger", das ist neuhochdeutsch für "Fahrradkurier"

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