09 Februar 2017

Ein Artefakt

2. Geschichte

Die beiden beugten sich wieder mit wichtiger Miene über den Gegenstand: Man hatte ihn kürzlich in einer Kuhle gefunden, die bis vor zweihundert Jahren einen kleinen sumpfigen See bildete. Infolge der Klimaerwärmung war seither vielerorts der Grundwasserspiegel gesunken und einige Seen ausgetrocknet.

„Hm, Kultgegenstand. Ja. Schon möglich. Aber dort ist nirgends ein Bauwerk? Einen Tempel gab es da nicht."

„Vielleicht eine Naturreligion. Ein Ritus, den man alleine im Freien ausübte"

„Ja. Doch. Durchaus denkbar."

Durch die sozialen Wirren, Kriege und Seuchen war über den Zeitraum der Jahre von 1900 bis 2230 der Zeitrechnung so gut wie nichts mehr bekannt. Das bedruckte Papier dieser Zeit war großenteils dem Säurefraß zum Opfer gefallen, bevor der Inhalt gesichert werden konnte. Ab dem Ende des 20. Jahrhunderts hatte man deshalb begonnen, Informationen auf elektronischen Datenträgern zu speichern. Erst nach 50 Jahren war allerdings bemerkt worden, dass die durchschnittliche Lebensdauer der Datenträger nur 40 Jahre betrug. Dadurch war erneut viel Wissen vernichtet worden, oder besser: Verschwunden. Vielleicht konnte man auch sagen: Das Wissen war verdunstet.

Danach waren - trotz der enormen Kosten - alle noch verbliebenen Informationen aller noch lesbaren Medien auf langlebigere Datenträger kopiert worden. Häufig allerdings als reine Datensammlung, ohne das zugehörige Lese- und Bearbeitungsprogramm. Überall in der Welt existierten also digitale Archive mit enormen Datenbeständen, die man in der Gegenwart des 26. Jahrhunderts mangels geeigneter Technik nicht lesen konnte.

Deswegen, aber auch wegen der Kriege, Seuchen und Wirren, und wegen der häufigen Stromausfälle, war man inzwischen zum Papier zurückgekehrt. Wichtige Dokumente wurden sogar wieder auf Pergament aus Tierhaut verfasst. Damit befand man sich nun rein technisch wieder auf dem Stand von 1750 - aber die Daten aus dieser Zeit konnte man trotz ihres Alters von über 700 Jahren noch ohne technische Hilfsmittel, nur mit unbewehrtem Auge, lesen. Wenn auch kaum verstehen.

Im Jahr 2128 war es zu einem Krieg zwischen dem schwedischen Baltenreich und der Union der vereinigten Republiken Kasachiens gekommen. Anlass, beziehungsweise Kriegsauslöser war allein die Tatsache, dass man nach einer digitalen Havarie kein einziges physisch greifbares, körperlich vorliegendes und lesbares Exemplar der „Vereinbarung über die Nutzung und Verwaltung der Freizeitparks des West-Ural" finden konnte.

Bei den Freizeitparks handelte es sich um ein Gebiet von der Größe der britischen Inseln und die Parks waren ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Beide Vertragspartner hatten Zweifel an den Rechten des anderen, welche nur durch einen kurzen heftigen Krieg ausgeräumt werden konnten. Danach waren die Parks kein Wirtschaftsfaktor mehr.

Im Jahr 2533, in dem sich die beiden Forscher über das Artefakt beugten, schrieb man also wieder auf Papier und wusste fast nichts mehr über einen langen, produktiven Zeitraum der Geschichte. Das Problem bestand im Fall des unbekannten Artefakts darin, das der Gegenstand eben dieser dunklen Epoche zu entstammen schien.

 

→ weiter zum 3. Teil

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