20 Jahre Mauerfall
Tja, jetzt ist es zwanzig Jahre her, dass die Mauer gefallen ist. Den historischen Moment habe ich vom Westen aus erlebt. Oder auch nicht. Ich breite hier mal meine persönlichen Erinnerungen aus.
Zum einen hatte es ja schon das ganze Jahr 1989 lang in der DDR rumort. Vom Westen aus wirkte diese kleine Republik wie ein strenges System, das von verbohrten und ahnungslosen Betonköpfen regiert wird. Also so wie unser damaliger Kanzler Kohl, nur noch schlimmer und im Streitfall immer bereit zu einer skrupellosen stalinistischen Lösung - was man dem Kanzler Kohl immerhin nicht vorwerfen konnte.
Wenn ich meine Verwandten im Osten besucht habe, wirkten die nicht generell unzufrieden, waren aber genervt von der penetranten Bevormundung durch das System, das ständig versuchte, seine Einwohner zu ihrem Glück zu zwingen - mit aller Gewalt. Außerdem wären sie gerne in ferne Länder gefahren, weil die nun mal interessanter erschienen als die Länder, in die man ohne große Hürden fahren konnte. Und das waren zugegeben nicht viele.
Sonst hatten sich meine Verwandten und Freunde mit den Unzulänglichkeiten dieses kleinen Landes mit dem großen Minderwertigkeitskomplex weitgehend arrangiert. Die waren aber auch keine Regimekritiker. Und sie machten nicht den Fehler, Dinge zu besitzen, die sich gegen Devisen im Ausland verscherbeln ließen, wie beispielsweise einige Leute, die wertvolle Antiquitäten geerbt oder womöglich irgendwann ganz regulär gekauft hatten.
Von außen betrachtet sah die kleine Republik also so aus, dass man irgendwie zurecht kommen konnte, wenn man sich nicht allzu weit aus dem Fenster lehnte. "Freiheit" war dafür als Gegenbegriff ein ganz schön großes Wort. Dabei war natürlich bekannt, wie rigoros die Führung mit Leuten verfuhr, die ihre Meinung allzu ehrlich oder allzu laut äußerten.
Gleichzeitig konnte man sich - auch wenn man nicht drinsteckte - schon denken, dass so ein System sich auch prima zur Verschaffung ganz persönlicher Vorteile nutzen ließ. Aber das kannte man so ähnlich auch aus dem Westen. Dachten wir jedenfalls.
Im Gegenzug wurde man im Westen nämlich ständig mit der Propaganda der Springerpresse bearbeitet: Von der
*wusste* man, dass sie nicht recht haben
*konnte*, weil sie genauso ideologisch und verbohrt war wie die kritisierte Führung im Osten. Für den denkenden Menschen im Westen bewegten sich die allgegenwärtige Springer-Presse und das Zentralkomittee in derselben moralischen Niederung. Das machte es schwer, die Vorgänge des Jahres 1989 zu beurteilen.
Die Unruhe in der DDR war schon das ganze Jahr über da gewesen und allmählich lauter geworden. Botschaftsausreise über Prag, Öffnung der ungarischen Grenze, Montagsdemonstrationen. An sich war zu erwarten, dass sich auch die innerdeutsche Grenze öffnen würde - mit der DDR-typischen Trägheit, mit überaus deutschen Antragsformularen und Verwaltungsakten, und mit Schikanen durch selbstherrliche Genehmigungsbehörden. Und letztlich erschien keineswegs sicher, dass nicht doch noch Militär eingesetzt würde, wie man es von den alten Stalinisten bereits kannte.
Am Abend des 9. November 1989 traf ich mich mit ein paar Studienkollegen. Ich hatte vier Wochen vorher meinen ersten Job angenommen, war noch voller Enthusiasmus und ging nach spätem Feierabend zum Stammtisch um mich mit den anderen auszutauschen. In dem Lokal stand ein Fernseher und es lief irgendein Fußball-Länderspiel. Die übrigen Gäste starrten den Bildschirm an, wir unsere Biere. Wir haben sie wohl auch getrunken. Als ich gegen Mitternacht das Lokal verließ war alles wie immer. Die Fußballfans waren dumpf und betrunken, ich nur voll des guten Bieres. In dem Lokal am Savignyplatz im Zentrum West-Berlins merkte man auch drei Stunden nach Maueröffnung nichts davon, kein Jubel, keine besondere Regung beim Wirt oder den Gästen.
Ich stand beim Verlassen des Lokals leicht schwankend da und starrte den Bildschirm an
"... wurden heute die Grenzübergangsstellen für DDR-Bürger geöffnet..." oder so ähnlich. Weiß nicht mehr. Dem Nachrichtensprecher fiel jedenfalls genausowenig sensationsheischender Text zu dem historischen Ereignis ein wie mir. Er trug das genauso vor wie schon das ganze Jahr über die anderen Nachrichten über Vorgänge in der DDR.
Ich stand da, starrte noch auf den Bildschirm, bis die Nachrichten vorbei waren und dachte mir:
"Ja ja, macht ihr mal..." Dann machte ich mich auf den Heimweg.
Bis zum Kurfürstendamm, der sich zu diesem Zeitpunkt mit zehntausenden DDR-Bürgern gefüllt haben muss, bin ich nicht mehr gelaufen. Wären vielleicht 400m gewesen. Wusste ich aber nicht. Ahnte ich nicht mal. Die historische Tragweite des ganzen Ereignisses ging schlicht an mir vorbei.
Am nächsten Tag war sie allerdings nicht mehr zu übersehen: Die ganze Stadt war voll mit Besuchern aus dem Osten. Inzwischen Hunderttausende. Die Straßen in Charlottenburg quollen über, die Geschäfte, die Bahnhöfe - alles. In diesem Moment wurde klar, dass sich zumindest etwas grundlegend verändert hatte: DDR-Bürger durften ausreisen. Bis 1989 war die *Ausreise* nie eine Reise, sondern fast immer ein Umzug. Wer diese sogenannte Reise machte, wollte oder durfte nicht mehr zurück.
Bei den jetzt eintreffenden Menschenmassen war klar, dass sie sehr wohl wieder zurück wollten - und damit die Paranoia und Besserwisserei der DDR-Führung krass widerlegen würden.
Dass innerhalb eines halben Jahres die ganze DDR nicht mehr existieren würde, war in diesen aufregenden Tagen nicht abzusehen und an sich gar nicht logisch: Wenn die Reisenden tatsächlich wieder in die DDR zurückkehrten, hätte sich zuerst nur das Grenzregime und noch einige andere unschöne Aspekte der kleinen Republik erledigt. Dann wäre es vielleicht endlich möglich gewesen, sich auf die wichtigen Dinge des Lebens zu konzentrieren. Das war aber anscheinend eine Handlungsoption, mit der die DDR-Oberen gar nichts anfangen konnten.
Wer hätte schon geglaubt, dass aus einer simplen Reiseregelung innerhalb kurzer Zeit und auf friedliche Weise die vollständige Auflösung eines ganzen funktionierenden Staatsgebildes werden könnte?
Ob das, was folgte, nun wirklich die Entwicklung hin zum besseren war, hängt sehr vom Standpunkt des Betrachters ab.